Geschichte

Die Zeremonie in Bwa Kaiman am Vorabend der haitianischen Revolution.
Die Zeremonie in Bwa Kaiman am Vorabend der haitianischen Revolution.

Tire Machèt (kreolisch für "die Machete ziehen") ist die aus Haiti stammende Kunst der Selbstverteidigung mit der Machete. Die Wurzeln dieser Fechtmethode liegen in der Zeit der haitianischen Revolution (1791 - 1804). Diese war der einzige dauerhaft erfolgreiche Sklavenaufstand in der Geschichte. Sklaven, die aus verschiedensten Teilen Afrikas verschleppt worden waren, schlossen sich über sprachliche und kulturelle Schranken hinweg zusammen, um das französische Joch abzustreifen. Für den Kampf gegen die französische Armee waren sie denkbar schlecht gerüstet, es gab nicht nicht genug Waffen, weswegen viele mit dem Gerät, das sie auf den Zuckerplantagen zur Ernte verwendet hatten, in die Schlacht zogen: Der Machete.

Tire Machèt ist in den ländlicheren Gegenden Haitis lebendige Tradition, wird aber normalerweise nur Familienmitgliedern oder wenigen ausgewählten Schülern im Geheimen gelehrt. Der inzwischen leider verstorbene Profesor Alfred Avril war der erste, der die Kunst offen unterrichtete und sogar Weiße als Schüler annahm, was in Anbetracht der Geschichte Haitis nicht selbstverständlich war.

Profesor Avril und Mike Dylan
Profesor Avril und Mike Dylan

Sein erster ausländischer Schüler, Mike Rodgers, bekam von ihm den Auftrag, die Kunst bekannt zu machen. Durch ihn kam sie das erste Mal nach Deutschland.

Quellen?

Es gibt keine bekannten schriftlichen Aufzeichnungen zu dieser Methode, nur die oben angerissene mündliche Überlieferung von Generation zu Generation. Profesor Avrils Söhne setzen sein Werk und seinen Unterricht auf Haiti, in der Nähe von Jacmel, fort. Es gibt jedes Jahr die Möglichkeit, direkt vor Ort von ihnen zu lernen, Mike organisiert Trainingsreisen.

Warum Tire Machèt?

Wie passt Tire Machèt ins Gesamtbild des Fechtbodens? Auf den ersten Blick scheint es wenig Gemeinsamkeiten zwischen deutschem und haitianischem Fechten zu geben. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich jedoch ein gemeinsamer Schwerpunkt: Das gedeckte Fechten. Sowohl deutsche wie auch haitianische Fechtkunst legen den größten Wert auf den Selbstsschutz, sichere Aktionen und Bewegungen werden jederzeit bevorzugt.

Die Waffe

Von Waffe zu sprechen, kann hier irreführend sein: Eine Machete ist in allererster Linie ein Werkzeug und Arbeitsgerät. Spezielle "Kampfmacheten" gab und gibt es auf Haiti nicht. Hieraus erklären sich auch einige der Unterschiede zwischen dem Gebrauch der Machete und des Säbels; die Machete verfügt nunmal, anders als ein Säbel mit Korb, über keinerlei Handschutz, mit dem man sich decken könnte. Dadurch muss der Körper während jeder Bewegung im richtigen Verhältnis zum Gegner positioniert sein, um maximale Deckung zu gewährleisten. Dies können nur die Beine leisten, wodurch Tire Machèt im Avril-Stil zu einer sehr athletisch wirkenden und bewegungsreichen Disziplin wird.

Es wird zunächst mit hölzernen Übungswaffen trainiert, die Verwendung echter, jedoch stumpfgeschliffener Macheten findet erst ab einem höheren Kenntnisstand und entsprechender Sicherheit in den Bewegungen auf Wunsch statt.

Die Technik

Es verdient zunächst erwähnt zu werden, dass sich das Machetenfechten von seiner ursprünglichen Schlachtfeldanwendung während der Revolution zu einem zivilen Selbstverteidigungssystem entwickelt hat. Die Machete ist auf dem Land als Arbeitsgerät allgegenwärtig, wenn es zu einem spontanen Angriff kommt, ist es tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass beide Beteiligten eine solche in Händen halten.

Auf Mikes Youtube-Kanal kann man einige Videos vom tradtionellen Trainig sehen, bei dem einer die Rolle des Angreifers, und der andere die des Verteidigers spielt. Der Verteidiger pariert lediglich, versucht sich aber währenddessen durch Beinarbeit in die sicherste mögliche Position, sprich: hinter den Angreifer, zu bringen. Der Angreifer hat die Aufgabe, jemanden, der versucht, einen mit der Machete zu töten oder schwer zu verletzen zu simulieren, also nicht ein besonnenen, taktierenden Fechter, sondern einen wütenden, betrunkenen oder verzweifelten Menschen, der nichts zu verlieren hat. Deswegen wirken und sind einige Bewegungen des Angreifers selbstmörderisch, im Echtfall müsste der Verteidiger aber in der Lage sein, mit solchen umzugehen. Wie immer, wenn von scharfen Waffen ausgegangen wird, ist es keine Alternative, mitgetroffen zu werden.
Das Spiel geht auch in einigen Situationen, in denen ein echter Kampf wahrscheinlich vorbei wäre, weiter, etwa nachdem der Verteidiger den Angreifer mit der Machete an der Hand pariert hat. Dies ist ein didaktisches Element, man soll sich nicht zu schnell sicher fühlen. Auch der in den Videos vorkommende Stich zwischen den Beinen durch nach hinten und andere seltsam wirkende Aktionen des Angreifers haben eben diesen Zweck: erst, wenn der Angreifer tatsächlich aufhört, darf sich der Verteidiger sicher fühlen, bis dahin muss er jederzeit reaktionsbereit bleiben. Bevor man in diesem Spiel nicht ein gehöriges Können entwickelt hat, werden Angriffskonzepte erst gar nicht angesprochen.

Tire Machèt vermittelt sowohl den Umgang mit einem nicht primär als Waffe konzipierten Gegenstand im fechterischen Sinne, als auch die Möglichkeiten und Grenzen der vor allem winkligen und zirkulären Beinarbeit. Es fördert auch die Bereitschaft, sich mittels größerer Anstrengung vor einem Treffer zu schützen, und hilft den Unterschied zwischen unnötiger Körperspannung, die den Fechter langsam machen und schnell ermüden würde, und sinnvoller Vorspannung, die schnelle Reaktionen ermöglicht, zu erkennen.

Unterstützung für die Avril-Familie auf Haiti

Wer sich für diese traditionsreiche Kampfkunst interessiert und deren Erben und Erhalter unterstützen möchte, hat nun die Möglichkeit dazu: https://www.patreon.com/haitianfencing
Hierbei geht es nicht um Bereicherung, sondern um Grundversorgung, welche auf Haiti leider nicht immer gegeben ist. Es gibt natürlich auch Belohnungen für Spenden. ;-)