Achtung, die Interpretation dieses Werkes steht erst am Anfang! Alle Aussagen geben den aktuellen Kenntnisstand wieder, mit fortschreitender Bearbeitung der Quelle kann und wird sich das Verständnis insbesondere der Technik durch deren Erprobung ändern. Der folgende Text möchte lediglich auf die Existenz der Rutzkunst hinweisen und einen groben Eindruck davon geben, was selbige beeinhaltet.
Zunächst eines vorweg: Wer auf den Begriff "Rutzkunst" nur mit Achselzucken oder "Die WAS bitte?" reagieren kann, braucht sich dessen nicht zu schämen, der Begriff wird nach aktuellem Kenntnisstand allein von Jacob Happel in seinem 1865 erschienenen Werk "Das Freifechten. Anleitung zur selbstständigen Erlernung der Ring-, Box- und Rutzkunst" verwendet. Der Titel des Buches zeigt bereits, in welche Richtung es geht, wenn man zunächst Ringen, dann Boxen gelernt hat, so vereinigt sich letzten Endes beides zum Rutzen, der Verbindung von Stößen und Schlägen mit Faust und Fuß mit Griffen und Würfen.
Happels Werk steht alleine auf weiter Flur, in der deutschsprachigen Kampfkunstliteratur des 19. Jh. findet sich sehr wenig zum Thema waffenloser Kampf, anders als in England, wo das Boxen als Mittel zur kurzfristigen Beilegung von Ehrenhändeln alltäglich ist, werden im deutschsprachigen Raum solche Angelegenheiten im formelleren Rahmen des Duells ausgefochten, wobei je nach Schwere des Vorfalls, fechterischem Können und sozialer Stellung der Beteiligten andere Waffen (häufig auch Pistolen) zum Einsatz kommen. Vor die Tür zu gehen und sich mit den Fäusten zu schlagen war nicht üblich, zumindest nicht soweit, dass sich viele Gedanken darüber gemacht haben, wie man sich darauf vorbereiten könnte, auch öffentliches "Prizefighting" war unbekannt. Hinzu kommt eine gewisse Skepsis dem Faustkampf gegenüber, der als turnerische Übung für weniger wertvoll als das Ringen, bei dem man mehr Muskelgruppen anstrengen muss und die Schädigung des Gegners durch einfache Regeln leichter zu vermeiden ist, angesehen. Auch für den Selbstverteidigungsfall finden sich Aussagen, denen zufolge ein Ringer einem Boxer gegenüber im Vorteil sei, wenn er nur einmal nahe genug herankäme, was ihm aber durch seine im Ringen erworbene Geschwindigkeit leicht fiele.
Wo Happel gelernt hat, gibt er leider nicht an, man kann also lediglich Mutmaßungen anstellen. Das Vorhandensein diverser Tritte legt jedoch Nahe, dass es einen französischen Einfluss gegeben haben muss, denn im europäischen Sprachraum befasste man sich, soweit bekannt, fast nur in Frankreich intensiv mit dem Einsatz der Beine als Waffen. Diese ursprünglich als Chausson bekannte Kunst wird einerseits auf die Seeleute von Marseille, die als Mittel gegen die langen und langweiligen Fahrten Wettkämpfe, bei denen man den Gegner zu treten versuchte, während man sich an Tauen festhielt, erfanden, andererseits auf die als "Apachen" bezeichneten Straßengangs von Paris, sowie die Mittel zu deren Abwehr, die französische Fechtmeister ihrer vornehmen Kundschaft beibrachten, zurückgeführt. Durch die Verbindung der Tritte des Chausson mit englischen Boxtechniken entstand La Savate oder Boxe Francaise, das auch heute noch in sportlicher Form betrieben wird, aber auch als Savate Defense zur Selbstverteidigung unterrichtet wird. Zudem hat sich in Genua das Savate Genovese in seiner unversportlichten Urform erhalten, wobei keine Fauststöße, dafür aber Knie und Ellbogen sowie die flache Hand zum Einsatz kommen.
Wie passt nun Happel in all das? Man kann sagen, dass es sich bei der Rutzkunst um die turnerische Bearbeitung und Zusammenstellung von Faust-, Fuß- und Ringertechniken handelt. Die Sprache greift ständig auf turnerische Begriffe (z.B. Ell-, Rist-, Speich-, und Kammlage der Hand, Frontstellung usw.) zurück, auch war das Ringen als turnerische Übung schon vor Happel durchaus geläufig. Da außerdem Happel in Antwerpen als Fechtlehrer tätig war und dort auch einen gewissen Bekanntheitsgrad für die Einführung des deutschen Turnens nach Belgien genoss, könnte man noch mutmaßen, dass er speziell die belgische Ausprägung des Savate gelernt hat. Weiter gestützt wird diese Vermutung durch das Vorhandensein des Stoßes mit dem vorderen Bein bei nach außen gedrehter Fußspitze, was auch im modernen Savate noch "Coup Belge", belgischer Tritt heißt, sowie dem Stockteil seines Gerätfechtens, welcher deutliche Ähnlichkeiten zum ebenfalls belgischen Canne royal aufweist.
Jacob Happel, Die Boxkunst, 1863
Jacob Happel, Das Freifechten, 1865
Warum diese Quellen?
Die Frage stellt sich in diesem Fall nicht, da es sich, wie oben erwähnt, so ziemlich um die einzigen Werke zum Thema handelt, lediglich einige Anmerkungen zum Ringen finden sich in manchen Büchern über das Turnen.
-Das Ringen
Nach den Vorübungen, die aus Beinarbeit, wie sie vom Fechten bekannt ist, bestehen, widmet sich Happels Werk zunächst dem Ringen. Die Herangehensweise ist eine spielerische, es wird zunächst nur ein gleiches Greifen beider Ringer und ein dazu passender Wurf samt dessen Deckung gelehrt, danach sollen die angehenden Ringer bereits versuchen, einander mit dem zu Gebote stehenden Mittel zu "fällen", wobei noch einige Regeln hierfür gegeben werden. Von hier aus werden Schritt für Schritt weitere Griffe, Würfe und Deckungen eingeführt, sowie die Regeln erweitert. Am Ende steht das sogenannte Kürringen, bei dem man die erlernten Techniken frei einsetzt, um den Gegner zu werfen, es soll auch ab und an so gerungen werden, dass der verliert, dessen beide Schultern den Boden berühren. Es wird Wert auf möglichst kontrolliertes Werfen gelegt, die dadurch erworbene zusätzliche Geschicklichkeit könne man im Ernstfall jedoch auch zum Nachteil des Gegners einsetzen.
- Das Handboxen
Als nächstes werden dem Schüler Fauststöße (verlaufen in gerader Linie) und Faustschläge (beschreiben einen Bogen) beigebracht, ebenso wie deren Paraden. Hierfür gibt das Buch Einzel- und Partnerübungen als Beispiele vor. In den Partnerübungen wird mit den lose gebeugt gehaltenen Fingern gestoßen und geschlagen, wodurch ein schmerzfreies Üben bei voller Geschwindigkeit möglich wird. Die volle Faust bleibt dem Ernstfall vorbehalten, Stöße und Schläge sollen alleine zwar auch gegen Wände, Bäume oder andere Ziele geübt werden, was man als Abhärtungsübungen verstehen könnte, mit dem Partner jedoch boxt man in Fechtausrüstung und versucht nur mit den Fingern zu treffen. Vermutlich wollte Happel hier einem der Hauptargumente gegen das Boxen, nämlich dass selbiges nur unter Inkaufnahme einer Schädigung des Gegners betrieben werden könne, entgegenwirken. Die Körpermechanik erlaubt allerdings bei voller Faust sehr harte Stöße und Schläge, man kann problemlos "Ernst machen".
Die als nächstes folgenden Tritttechniken unterteilen sich, wie schon die Handtechniken, in Stöße und Schläge. Die Ähnlichkeit zur Trittweise des Savate ist kaum zu übersehen, wenn auch nicht dieselbe Vielfalt vorhanden ist. Besonders positiv fällt die Beschreibung der Bewegungen auf, es werden in Notenschrift Takte den einzelnen Bestandteilen eines Trittes samt Rückkehr in die Stellung zugeordnet. Auch hier gibt es Einzel- und Partnerübungen, man versucht den Partner bei nicht gestrecktem Bein mit den Zehen oder dem Fußrücken zu berühren, harte Kontakte sind nicht vorgesehen. Die Trennung zwischen Übung und Ernstfall bleibt strikt. Paraden tiefer Tritte werden hauptsächlich durch Versetzen oder Heben des angegriffenen Beins bewerkstelligt, das Abfangen mit der Schuhsohle wird beschrieben, da sich der Angreifer hierbei fast immer wehtut, zur Vorsicht hierbei gemahnt. Ab Hüfthöhe kommen Paraden mit den Händen dazu. Es wird auch hoch, sprich bis zum Kopf getreten, allerdings mit dem Hinweis, dass solches im Ernstfall sehr gefährlich sei und dort nicht empfohlen werden könne.
Es folgt, wie oft in deuschen Quellen, ein Abschnitt, der die Teilaspekte Handboxen und Fußboxen zusammenführt. Für das Kürboxen folgt der Hinweis, dass man sich mit dem Gegner vorher deutlich absprechen möge, was erlaubt sein soll oder nicht, insbesondere wenn man mit einem Engländer boxe, da viele dieser Herkunft es durchaus gentlemanlike fänden, wenn einer dem anderen das Auge ausschlage, es jedoch "common" fänden, wenn er ihm vors Schienbein trete.
Hier werden nun die Ringertechniken mit Hand- und Fußboxen vereint. Es finden sich Aktionen, bei denen an einen Fauststoß direkt ein Wurf angehängt wird, ebenso Würfe nach parierten Angriffen sowie Befreiungsaktionen, wenn das Bein nach einem Tritt festgehalten wird, letztere sehr Savate-typisch. Ein Freikampf mit Rutzen ist nicht vorgesehen, es werden lediglich einige Techniken beispielhaft beschrieben. Beim abschließenden Hinweis, dass all dies für den Ernstfall gedacht sei, wird auch noch Finger- und Handringen erwähnt, worauf der Autor jedoch nicht näher eingeht.